Deutsch
Falls du dich noch erinnerst
Falls du dich noch erinnerst, wie du mich gefüttert hast
halbe Kirschen aus deinem Mund
professionell wie ein Schauspieler
und wie ich dich ein Jahr später die warme Milch
probieren ließ aus meinen harten Brüsten
an deinen Gesichtsausdruck in dem Moment
und wie du meinen ersten halbgekochten Reis gelobt hast
auch das im ersten Herbst mit allen Innereien gekochte Huhn
als ich mit dir zusammen meine erste Abschlußmahlzeit vor dem Fasten aß
und wie du mir von den Tantiemen ein graues Kleid und lila Handschuh aus Wildleder kauftest
und wie ich dir heimlich und auf Raten einen wollenen Morgenmantel mit Stehkragen erstand
falls du dich noch erinnerst an meinen Ledermantel
und deine hellblauen Pyjamahosen
die wir im Garten des Krankenhauses zwischen nicht sehr hohen Büschen ausbreiteten
als ich mich nachts zu dir schlich, weil du angerufen und gesagt hattest, daß du das jetzt brauchst
da war ich schon Mutter von vier Kindern
und wie du vom Reservedienst nach Hause kamst, mitten in der Nacht
{und} wie ich glücklich und stolz war, daß du mein bist
falls du dich noch erinnerst, wie ich deinen Kopf in meinen Schoß legte
und dir die Augen ein bißchen zufielen, am schimmernden See
auf einer Bank in der Allee, direkt nachdem du den Vertrag unterschrieben hattest
und ich verstand, daß du jetzt wirklich glücklich warst
falls du dich noch erinnerst, wie ich dich festhielt, mit aller Kraft
die damals noch in meinen schwachen Hüften war
als du in der Badewanne schriest wie ein verwundeter Bär
und wie du meine Schultern und meinen schwangeren Bauch hieltest bei Vaters Beerdigung
als ich das Kleid falsch herum anhatte und nicht aufhören konnte zu weinen
und wie du mir heldenhaft meine Lügen und meine Rachsucht verziehst
falls du dich noch erinnerst an den dornigen Himbeerstrauch
der eigenwillig weiter wuchs, nachdem die Arbeiter ihn mit Beton zugeschüttet hatten
dann erzähl mir bitte davon
denn in letzter Zeit fang ich an, Dinge zu vergessen.
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Akzente 2/11 Anthologie hebräischer Lyrik von Chaim Nachman Bialik bis heute, zusammengestellt von Ariel Hirschfeld, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser 2011. ]
Geschenk
Ich war neun, als ich beschloß, meiner Mutter ein Geschenk zum Geburtstag zu machen,
ganz allein und deshalb heimlich, etwas, was ich konnte
etwas, was ich alleine konnte, was sie überraschen würde
was ihr gefallen und ein bißchen Freude machen würde.
Heimlich nähte ich ein Taschentuch, eine Serviette, einen Lappen, und etwas, das einem Geldbeutel glich
Heimlich schnitt ich die Puppendecke in bunte Stoffstücke
und nähte überwendlich und säumte sie mit Knopflochstich, wie wir's gelernt hatten.
Vom Vater bekam meine Mutter eine silberne Nadel von "Bezalel"
eine Filigranarbeit, zwei Hügel
die steckte sie sich auf dem blauen Kleid an die Brust.
Zu meinem Geschenk sagte sie: Du hättest besser eine, große Sache gemacht.
Über fünfzig Jahre war ich sprachlos, was sollt ich antworten.
"Du hättest besser eine, große Sache gemacht", begriff ich mehr und mehr.
Sie starb vor wenigen Jahren, ohne daß ich mit ihr darüber gesprochen hatte.
Doch heute erfuhr ich plötzlich, daß ich sie bald treffen würde; dann werd ich sagen:
Mutter, das hab ich gemacht. Das hab ich gekonnt.
Ein Taschentuch, eine Serviette, einen Lappen und etwas, das einem Geldbeutel glich.
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Akzente 2/11 Anthologie hebräischer Lyrik von Chaim Nachman Bialik bis heute, zusammengestellt von Ariel Hirschfeld, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser 2011.
“Die jüdische Rezeption Vladimir Solov'evs”, Ich unde der/die andere in der russischer Literatur ed. By Christina Parnell, Peter Lang, 2000, pp. 101-130